Stadtkunst
Der öffentliche Raum als Labor - Neue Ansätze informeller Stadtgestaltung
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Sie wollen und müssen ihre eigenen Standpunkte zu den alten und neuen Fragen des urbanen Lebens finden, inklusive einer gehörigen Portion an zwangsläufiger Horizonterweiterung – durch Globalisierungsdiskurse, asiatische Entwicklungsexplosionen und Billigflugtickets. Ihre Perspektive auf heutige Stadtgebilde ist in erster Linie geprägt von der Suche nach unentdeckten oder unbeachteten Potentialen und von der Neubetrachtung und damit einhergehend auch Neubewertung ästhetischer und atmosphärischer Qualitäten. Großdimensionale gestalterische Aufgabenstellungen sind in Europa rar geworden, und somit scheint das Verfassen von Architektur- und Städtebau-Manifesten oder die Gründung von (Stil-)Bewegungen nicht zu locken. Allein der Blick nach China genügt wohl, um solche Ansinnen einigermaßen naiv und idyllisierend wirken zu lassen.
Aktionistische Experimentierfreude
Die Methoden und Strategien, mit denen die Ambitionierten unter den Jüngeren und Jungen ihre Analysen und Erprobungen betreiben, haben sich ebenfalls stark verändert: Die Nähe zu künstlerischen Ansätzen bei Stadtplanern und Architekten einerseits und das große Interesse bei Künstlern und Kulturtheoretikern an diesen Themen andererseits bringt eine Vielzahl vornehmlich temporärer Projekte hervor, die spielerisch, zeichenhaft und metaphorisch, aber auch ganz konkret, pragmatisch oder gar sozialpolitisch gelagert sind. Diese Art von aktionistischer Experimentierfreude und Offenheit erinnert an die Aktivitäten der 60er und frühen 70er Jahre, allerdings gänzlich ohne den damaligen revolutionär-utopistischen Hintergrund. So unterschiedlich die jeweiligen Positionen und Intentionen dabei auch sein können, allen gemeinsam ist das Interesse daran, eine Veränderung des Blicks herbeizuführen, Situationen, Räume, Areale und Gebiete des baulichen und strukturellen Kontextes Stadt auf andere Art zu sehen und daraus produktive Schlüsse zu ziehen.Dieser Blickwechsel ist deutlich mitgeprägt von einer neuen fotografischen Wahrnehmung, die insbesondere von Schülern Bernd Bechers an der Düsseldorfer Kunstakademie wie Andreas Gursky, Thomas Struth, Axel Hütte oder Boris Becker etabliert wurde. Der Künstler Boris Sieverts, Sohn des prominenten Stadtplaners Tom Sieverts, ermöglicht dagegen seit Jahren mit seinem Büro für Städtereisen bestimmte Momente urbaner Landschaften ganz direkt zu erleben: In ausgedehnten Touren führt er Gruppen durch Peripherien und "Unort"-Zonen, bislang im Ruhrgebiet, in Köln, Paris, Orleans und Rotterdam. Er will dabei einen strukturellen Reichtum erfahrbar machen, der einer konventionellen Betrachtung verborgen bleibt, und versucht so, neue ästhetische und emotionale Konnotationen zu vermitteln. Eine typische situative und atmosphärische Umdeutung war sein "Parkdeckrestaurant", das er während der Architekturwoche plan03 in Köln realisierte: Er lud bei sommerlichem Wetter zu gegrilltem Fisch und gekühltem Weißwein auf die oberste Ebene eines Innenstadt-Parkhauses ein – mit Ausblick auf die umliegenden Häuser genossen die Besucher jenseits der sonst üblichen Tristesse solcher Orte eine mediterran-heitere Stimmung.
Einen ähnlichen Ansatz sensibilisierter Wahrnehmung von urbaner Landschaft verfolgt ebenfalls das Atelier Latent (ehemals Atelier für Spaziergangsforschung) von Bertram Weisshaar in Leipzig.
Interventionen im öffentlichen Raum
Aber auch konkrete Eingriffe – seien sie provozierend, poetisch, didaktisch oder sozial engagiert, oder auch alles gemeinsam – kann man als von Künstlern erprobte Vorgehensweise bezeichnen. Die Tradition interventionistischer Installationen führt das Berliner Künstlerpaar Folke Köbberling und Martin Kaltwasser auf eine scheinbar naiv-pragmatische Art mit ihren Eigenbau-Häusern aus "Umsonst-Materialien" fort. Der subversive Gehalt, der solchen künstlerischen Aktionen grundsätzlich innewohnt, sollte dabei nicht verkannt werden. Zentrale Fragen zu Eigentumsverhältnissen, gesetzlichen Bestimmungen, Entscheidungsstrukturen und -hierarchien, behaupteter und tatsächlicher Funktionalität und ästhetischen Vorstellungen werden implizit oder ausdrücklich gestellt. Projekte wie der Info Offspring Kiosk von Eva Hertzsch und Adam Page, den es seit 2000 in Dresden gibt, sind zu stadtteilpolitischen Faktoren geworden und zeigen erstaunliche soziokulturelle Wirkung. Das Informations-, Freizeit- und Kulturangebot des Kiosks, der in einem mobilen Container untergebracht ist, ist nachhaltiges Zeichen für erfolgreiches bürgerschaftliches Engagement und für urbane Lebensqualität jenseits von Shopping-Malls. Ganz ähnlich agiert das Leipziger Architekturbüro KARO (das Kürzel steht für "Kommunikation Architektur RaumOrdnung"), das 2005 eine temporäre Stadtteilbibliothek in Magdeburg mitinitiiert hat: Auf einem Brachgelände, wo früher tatsächlich ein Bibliotheksgebäude stand, wurde eine Konstruktion aus gestapelten Getränkekästen errichtet, die die Anwohner mit Buchspenden zu einer informellen Bibliothek ausgebaut haben. Und die Düsseldorfer Künstlerinitiative stadtraum.org von Markus Ambach und Andrea Knobloch fordert in ihren Veranstaltungen und Aktionen nicht nur ein anderes Verhältnis von Kunst und öffentlichem Raum, sondern darüber hinaus eine demokratischere und kreativere Stadtplanung. Sie versucht, stadtplanerische und -gestalterische Entscheidungsprozesse transparent zu machen und auf diese mit unkonventionellen Konzepten, die sie in die Diskussion bringt, einzuwirken. Die Architektengruppe osa – office for subversive architecture wiederum, deren Mitglieder über die Landesgrenzen hinaus verstreut sind, leistet durchaus Kunstwürdiges: Ihre Eingriffe und Installationen belegen nicht nur einen gewissen Hang zur Süffisanz, sondern vor allem große Phantasie bei der Schaffung von prägnanten Stadtraum-Bildern mit zuweilen surrealen Anklängen. Auch die Mitglieder der Gruppe raumlabor_berlin, vorwiegend Architekten und Stadtplaner, bewegen sich gerne in solchen künstlerischen Zusammenhängen, die mit den entsprechenden Freiheiten verbunden sind. Im Rahmen des Münchner Kunstprojekts Ortstermine 2006 haben sie für eine Invasion silberfarbener PKW gesorgt, die die Parkplätze des ruhigen Wohnviertels Stadelheim nach einer bestimmten "Choreografie" besetzt haben – mit entsprechend irritierender Wirkung.
Der Landschaftsarchitekt Jörg Rekittke hat im Rahmen des Berliner Projekts Temporäre Gärten, vor allem aber im Kontext der alljährlich in Köln stattfindenden internationalen Architekturwoche plan
immer wieder Aktionen durchgeführt, die grundlegende Fragen urbaner
Gestaltung und Lebensweise auf spielerische Weise behandeln. Oft in
Zusammenarbeit mit dem Stadtplaner und Architekten Andreas Fritzen hat
er dabei versucht, Klischees und schnell gefasste Urteile – sowohl bei
Architekten als auch bei "Nichtprofessionellen" – in Frage zu stellen
oder zu konterkarieren. Dazu gehörten Exkursionen zu
Musterhaussiedlungen, um festzustellen, wonach sich der
"Normalverbraucher" wirklich sehnt, oder studentische Probanden, die
nur mit dem Nötigsten für eine Woche Stadtleben ausgestattet wurden, um
herauszufinden, was es mit dem heutzutage angeblich nomadischen
Großstadtdasein wirklich auf sich hat.
Die genannten Gruppen, Personen und Projekte können selbstverständlich nur eine kleine Auswahl darstellen. Die "informelle" Stadterforschung und -gestaltung ist inzwischen ein weites Feld, auf dem es eine ganze Menge zu entdecken gibt. Eine Frage, die bleibt, ist jedoch: In welchem Maß und wie nachhaltig wird sich das auf die allgemeine Realität von Planen und Gestalten auswirken? Immerhin zur einen oder anderen Professur haben diese Aktivitäten bereits geführt, so dass zumindest ein gewisser Einfluss auf die Lehre als gesichert gelten kann.
ist freier Architektur- und Kunstkritiker, Publizist sowie Initiator und Kurator des internationalen Architekturfestivals "plan" in Köln.
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Februar 2007


























